Das Projekt

Decolonize Weimar!

Decolonize Weimar ist ein Projekt von Studierenden der Bauhaus-Universität Weimar, vor allem der Studiengänge Medienwissenschaft und Medienkunst, und Teilnehmenden des Programms Migrant*innen als Fachkräfte der Bildungsarbeit der Europäischen Jugendbildungs- und Begegnungsstätte Weimar. Damit schließen wir uns zahlreichen Initiativen für postkoloniales Erinnern an, die in verschiedenen Städten wie Berlin, Erfurt oder Jena[1] losgetreten wurden und in denen durch Graswurzelinitiativen lokale Stadtgeschichten neu erzählt werden.

In einigen Städten hat dies zu einer breiten Debatte über Erinnern im Stadtraum geführt. In anderen Städten sind neue Erinnerungsorte entstanden. Auch in Weimar, einer Stadt mit so vielen Schichten der Erinnerung, sind längst nicht alle Geschichten erzählt.

Mit einem Stadtplan und einem Stadtrundgang sollen die kolonialen Orte Weimars vorgestellt und diskutiert werden. Dadurch soll eine Debatte darüber ermöglicht werden, wie man die Kolonialgeschichte erforschen, vermitteln und kritisch erinnern kann. Es soll deutlich werden, dass Kolonialismus in Deutschland und durch Deutschland als Staat aber auch durch Akteure wie Forscher*innen oder Händler*innen stattfand. Er hatte vor den 1880er Jahren massive Auswirkungen und zeitigt diese noch heute – mit dem Motto decolonize steht die These im Raum, dass Praktiken, Denkweisen und Folgen des Kolonialismus keiner abgeschlossenen Zeit angehören.

Ein Stadtrundgang will erinnern und er will Zusammenhänge zwischen Orten wie Reiterdenkmälern, Kaffeeläden und dem Bauhaus aufzeigen. Es sind Orte, an denen auch heute noch Kolonialakteuren gedacht wird – und sei es nur, weil ihre Büsten an Häuserwänden instand gehalten werden wie am Herderplatz 3. Es sind auch Orte, an denen Erinnerung fehlt, z. B. an jene, die sich Kolonialismus und Rassismus entgegengestellt haben. Erinnern hat etwas damit zu tun, wie sich eine Stadt und die Wahrnehmung dieser verändert. Wenn ich Orte wie  Weimar als Orte der Kolonialgeschichte sehe, dann verändert sich auch mein Bild von diesem Ort. Wenn ich Orte anders wahrnehme, verorte auch ich mich anders in einer Stadt. Viele Orte kommunizieren bewusst und/oder strukturell Ausschlüsse. Nicht alle Menschen können sich in Weimar frei und unbescholten bewegen. Eine Stadt ist eine komplexe Regulation von Zugängen und Ausschlüssen. Viele internationale Studierende etwa berichten von Anfeindungen, von rassistischen Beleidigungen und von der Anhäufung von Mikroagressionen in ihrem Alltag. Auch dieser heutige, vielleicht wieder offener gezeigte und vor allem mobilisierte Rassismus, hat etwas mit Kolonialgeschichte zu tun. Wenn Rassismus sich heute vielleicht anders zeigt, andere Begriffe mobilisiert und kulturelle Kategorien bemüht, so wirkt sein Konstrukt einer anderen auf körperlichen Merkmalen beruhenden Unterlegenheit, der sogenannten „Rasse“, auch heute noch fort. Dies ist und war auch historisch wichtigster Legitimationsgrund der kolonialistischen (Denk-)Strukturen sowie der dadurch ermöglichten Verbrechen.

Eine Stadt ist aber auch sedimentierte Erinnerung. Diese Erinnerung ist veränderlich und kann bisher wenig beachtete Themen integrieren. Erinnern hat auch etwas damit zu tun, wie wir Räume erfahren und unter welchen Voraussetzungen sich Stadt und damit unsere unmittelbare Umgebung geformt haben. An wen wird mit Straßennamen erinnert und an wen nicht? Warum wird noch heute einem selbsternannten Afrikaforscher gedacht, der durch seine Erkundungen konkret Kolonialinfrastruktur ermöglicht hat wie Gerhard Rohlfs?[2]

Wichtig ist uns, dass eine andere Geschichte Weimars zum Vorschein kommt, eine, die auch heutige rassistische und nationalistische Strukturen historisch verortet. Erinnern wollen wir an die deutsche Beteiligung weltweiter Kolonialunternehmungen in unterschiedlichen Graden, auf spezifische Weise und mit unterschiedlichen Folgen. Wir wollen auch an diejenigen erinnern, denen durch das deutsche Einflussstreben und koloniale  Sendungsbewusstsein großes Unrecht geschehen ist. Dieses Unrecht ist heute vielleicht erstmals in einer größeren auch außerakademischen Debatte präsent, längst aber noch nicht umfassend, vollständig und in seinen Schattierungen erforscht – und vor allem ist es nicht von offizieller Seite anerkannt. Hier hat Erinnerungskultur materielle Folgen, denn damit sind auch Ansprüche auf Entschädigung seitens der Regierung verbunden, die aktuell gerichtlich ausgehandelt werden.

Nicht alle kolonialen Strukturen einer Stadt wie Weimar stehen in einem direkten Verhältnis zu Sklaverei, Ausbeutung und Genozid, wie sie beispielsweise bei jenem Völkermord an Herero und Nama im heutigen Namibia 1904-1908 zu sehen waren, von dem die Weimarer Zeitung 1904 euphemisierend als Aufstand spricht. Das macht sie aber nicht weniger bedeutsam oder wirkungsvoll für das koloniale Wirken. Um so wichtiger ist es, ein Netzwerk zu rekonstruieren, welches sich nicht nur vorübergehend und marginal, sondern strukturell, in das Denken, Fühlen, Wahrnehmen und Handeln der damaligen Weimarer und deutschen Bevölkerung eingenistet hat. Denn nur durch diese breiten Strukturen, die Akzeptanz und die Re/Produktion von Weltbildern und Identitäten der Überlegenheit, die durch Filme, Zeitungen, Diskurse, Werbung, Waren und nicht zuletzt den Stadtraum produziert wurden, war es letztlich möglich, in andere Räume, Ökonomien und Sozialverbände einzugreifen, Kulturen zu zerstören und Menschen zu nichtentlohnter Arbeit zu zwingen. Diese lokal kultivierten Auswirkungen sind heute global zu spüren. Nicht nur an Orten wie dem heutigen Namibia und Togo, auch Weimarer Bürger*innen und das Weimarer Fürstenhaus haben auf eine Weise lokal gehandelt, die Auswirkungen auf Menschen in den sogenannten Schutzgebieten, aber auch auf jene hatte, die nach Weimar gebracht wurden. Von ihren Geschichten erzählt Isabell Schwaderers Beitrag.

Das Projekt versteht sich nicht einfach als eine historische Vervollständigung einer geschichtsträchtigen Stadt. Es will in die Erinnerungskultur und damit in die Bezüge der hiesigen und besuchenden Menschen zu dem historischen, kulturellen und sozialen Ort aktiv intervenieren. Denn Weimar wird und wurde sehr häufig für das deutsche Identitätsverständnis gebraucht und auch missbraucht.

Die Weimarer Kolonialgeschichte hat verschiedene Hochphasen. Wir konzentrieren uns sehr grob ausgedrückt auf drei dieser Phasen und deren heutige Auswirkungen, die natürlich nicht erschöpfend sind. Gerade in Bezug auf heutige Erfahrungen möchten wir gerne weitere aktuelle Stimmen hören und publizieren, die ihre möglichst vielfältigen Erfahrungen in Weimar teilen – also kontaktieren Sie uns und arbeiten Sie bei unserem Projekt mit.

Eine erste, hier mit zwei Beiträgen vertretene, ist eine frühe, durch die Fürstenfamilie gestützte Kolonialbegeisterung und eine spätere, vom NS inspirierte Kolonialbewegung, wozu auch die Kolonialvereine und der Kolonialbrunnen mit seiner festlichen Einweihung zählten. Auch in der Weimarer Republik gibt es ein starkes revisionistisches Kolonialstreben. Der Historiker Winfried Speitkamp macht darauf aufmerksam, dass die meisten Denkmäler erst nach dem Verlust der Kolonien entstanden und ein ständiges Mahnmal der Rückeroberung sind.[3] So auch der Weimarer Kolonialbrunnen. Im Nationalsozialismus wurde auf Strukturen der Kolonialbewegung in Weimar zurückgegriffen, wie die Beiträge zum Kolonialheim in der Prellerstraße 1 und Kolonialbrunnen, zeigen. Koloniale Gewaltpraktiken waren trotz aller Differenzen und strukturellen Unterschiede auf einer Ebene des revisionistischen, rassistischen und antisemitischen Gedankengutes hochanschlussfähig an den Nationalsozialismus, wie Jürgen Zimmerer argumentiert.[4] Und gerade in Weimar kann man verfolgen, wie an diese Strukturen angeknüpft wurde.

Kolonialgeschichte beginnt nicht mit der sogenannten Afrikakonferenz 1884/85 und vor allem endet sie nicht mit dem Ende der Kolonien. Sie beginnt schon vorher, z. B. mit Handelsnetzwerken der Fugger und Walser (siehe Decolonize Erfurt) und sie setzt sich in eine Geschichte rassistischen Denkens und der globalen Abhängigkeiten fort. Viele Denker*innen wie Gayatri Chakravorty Spivak, Achille Mbembe und Walter Mignolo haben darauf aufmerksam gemacht, welche kolonialen Strukturen auch heute noch gesellschaftlich fortwirken. Dekolonisierung ist eine Aufgabe, die sich auf alle möglichen Lebensbereiche von der Wissensproduktion und ihrer Vermittlung über Geschichtsschreibung und Erinnerung bis zu Subjektivierung verläuft, die mit all diesen Bereichen verbunden ist. Es „ist für das Verständnis des Kolonialismus zentral, wie er sich kulturell manifestierte, welche Stereotype und Narrative koloniale Herrschaft stabilisierten und welche psychischen und affektiven Bedingungen die kolonialen Beziehungen strukturierten“[5]

Wie breit gefächert koloniale Institutionen, Orte und Akteure zusammenspielen, das wollen wir hier vor allem aus einer medienkulturwissenschaftlichen Sicht deutlich machen. Daher geht es uns nicht nur um menschliche Akteure (auch wenn deren Geschichten wertvolle Aufschlüsse über Strukturen liefern), sondern um Medien wie Zeitung, Film, Gedenktafeln, Straßennamen. Es geht um Orte der Sozialität wie den Victoriagarten, das ehemalige Kolonialheim in der Prellerstraße 1. Es geht um unbewusst oder bewusst gepflegten und einen nie infragegestellten Kult um den Präsidenten der burischen Republiken Paul Kruger am Herderplatz und um die Aktivitäten des Unternehmers und Verlegers Friedrich Bertuch, vor allem des geographischen Instituts die von diesem publizierten Ephemeriden, die zu einem wichtigen Stichwortgeber europäischer Kolonialdebatten werden. Es geht aber auch um koloniale Waren, die unser alltägliches Leben bis heute bestimmen und bis heute globale Ausbeutungsstrukturen aufrechterhalten, die in Kolonialismus und Sklaverei verwurzelt sind. Wir haben somit ein breites Verständnis von Kolonialismus – und von den Kulturtechniken, den Medien, die ihn ermöglichten, seine Widersprüche verhandeln und seine gedanklichen Strukturen auch heute noch unterstützen.

Im Anschluss an die weite Interpretation von Kolonialismus u. a. als strukturell weitreichendes, epistemisches und sozioaffektives System, werden auch diverse erweiterte Medien des Kolonialismus sichtbar. Zahlreiche der kolonialen Techniken sollen sichtbar gemacht werden, um auch den Charakter der Herrschaft zu verstehen, der eben auch Subjektpositionen in den sogenannten „Mutterländern“ hervorbrachte, die das Projekt andernorts strategisch, politisch und ideologisch unterstützen.

Wie wurden z. B. die Kategorien von Mutterland und Kolonie, selbst und anderem hervorgebracht und stabilisiert? Dazu waren zahlreiche Institutionen diesseits und jenseits der Ökonomie und Politik notwendig. Deshalb wirken diese Positionen und Subjektentwürfe bzw. die Techniken diese herzustellen auch bis heute nach. Zum Beispiel existiert die Vorstellung, Kolonialismus hätte nur in den Kolonien selbst stattgefunden.[6] Nur wenn man auch versteht, wie Weimar von einer Kolonialbegeisterung erfasst wurde, wie Akteure und Institutionen in und um Weimar wie Carl Alexander zu Sachsen-Weimar die Kolonialbewegung mit Wort, Idee, Geld und Tat unterstützt haben, wie Weimar ein Begegnungsort von Afrikaforschern wie Rohlfs, dem durch eine Erinnerungstafel in der Belvederer Allee 19 gedacht wird und Kolonialverbrechern wie Carl Peters wurde, kann man auch heute andere Zugänge zur Geschichte öffnen.[7] Das heißt auch dem zu begegnen was in den letzten Jahren zunehmend als deutsche Kolonialamnesie benannt wurde. Begründet wird diese durch die Erzählung, Deutschland hätte nur relativ kurz Kolonien besessen. Dabei waren die deutschen Schutzgebiete 1914 flächenmäßig die drittgrößten der Welt.

Und dies ist besonders in einer Stadt wichtig, die Peter Merseburger als eine der Hauptstädte deutschen Kolonialismus um die Jahrhundertwende beschreibt.[8] Zahlreiche lokale Forschungen über Weimar stammen von Alf Rößler, auf die wir im Einzelnen zurückgreifen konnten, die diesen Fakt stützen und Weimar als umfassendes Netzwerk von Kolonialeuphorie sichtbar machen.[9] Um unsere Darstellungen des Weimarer Kolonialstrebens um eine zeitgenössische kritische Perspektive zu ergänzen, haben wir Willi Münzenberg, einen lokalen Erfurter Kritiker des Kolonialismus einbezogen. 

Der Stadtrundgang soll nicht nur einzelne Stationen und Orte sichtbar machen, sondern auch Strukturen verdeutlichen. Orte sind wichtig, um zu gedenken bzw. zu erinnern. Der Kolonialismus lässt sich jedoch nicht nur anhand von zehn Orten erzählen. Die von uns gewählten Orte sind daher eine erste Auswahl, die die Spannbreite kolonialen Wirkens von Gaststätten über Kinos zum Stadtschloss sichtbar machen. Unser Stadtrundgang kann keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben – weder von den Orten noch von den Perspektiven derer her, die ihn machen. Deshalb laden wir alle interessierten Menschen ein, einen Beitrag zu leisten und einen Ort beizusteuern oder zu vervollständigen. Dieses Projekt ist bewusst offen gehalten und soll wachsen.

Die Arbeiten aus dem Seminar Decolonize Weimar! enthalten einen Stadtplan, Texte und Podcasts. Vor allem aber wollen wir mit Ihnen und euch ins Gespräch kommen und bieten Stadtrundgänge an, in den wir genauere Informationen liefern und auf Nachfragen eingehen können.

Treten sie in Kontakt mit uns und vereinbaren sie einen Termin für Gruppen und Schulklassen, Seminare und Arbeitsgemeinschaften.


Endnotes

[1] http://berlin-postkolonial.de/ und Kulturstiftung des Bundes, sowie das Projekt der Initiative Schwarzer Menschen In Deutschland e.V. zusammen mit dem Peng Kollektiv: Tear this down.

[2] Ulrich van der Heden: „Die geographische Entdeckung Afrikas und der deutsche Kolonialismus“. In: ders. und Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialismus hierzulande. Eine Spurensuche in Weimar. Erfurt: Sutton Verlag, 95-103, hier, S. 102.

[3] Winfried Speitkamp: „Kolonialdenkmäler“. In: Jürgen Zimmerer (Hrsg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung: Bonn 2013, S. 409-423.

[4] Zimmerer diskutiert sehr differenziert, inwiefern eine direkte Kausalität genauso problematisch ist wie die Ignoranz dessen, dass der Nationalsozialismus strukturell und gedanklich an das koloniale Projekt anschließen konnte. Jürgen Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Berlin: Lit 2011.

[5] Ulrike Schaper: „Deutsche Kolonialgeschichte postkolonial schreiben – was heißt das?“ In: Bundeszentrale für politische Bildung vom 27.9.2019: https://www.bpb.de/apuz/297593/deutsche-kolonialgeschichte-postkolonial-schreiben-was-heisst-das?p=2

[6] Vgl. Ulrich von der Heyden und Joachim Zeller (Hrsg.): Kolonialismus hierzuladen. Eine Spurensuche in Deutschland. Erfurt: Sutton Verlag 2007.

[7] Vgl. dazu Alf Rössner, der die Begegnungen von Kolonialakteuren am Fürstenhof nachzeichnet: Alf Rössner: „‘Kulturträger‘ im ‚schwarzen Erdteil‘. Weimars kolonialer Anspruch unter Carl Alexander und Wilhelm Ernst“. In: Ilm Kakanien, Weimar am Vorabend des Ersten Weltkrieges, hrsg. v.  Franziska Bomski, Hellmut Th. Seemann und Thorsten Walk, Göttingen Wallstein Verlag 2014, S. 197-212; „Das koloniale Weimar, in: Kolonialismus hierzulande, hrsg. V. Ulrich von der Heyden und Joachim Zeller, Sutton Verlag: Erfurt 2007, S. 27-33.

[8] Peter Merseburger: „Deutschlands heimliche Kolonialhauptstadt. Carl Alexanders Wandlung vom Liberalen zum Nationalkonservativen“. In: Ders.: Mythos Weimar. Zwischen Geist und Macht. Pantheon 2013, S. 215-242.

[9] Vgl. Verweise in Fußnote 5.