Moritz Deutschländer und Rafael Rörich
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Gustav Giesel Delikatessenladen, am Markt 22
Am 1. Oktober 1904 eröffnete in Weimar, am Markt 22, der Delikatessenladen „Gustav Giesel“. Der gleichnamige Besitzer arbeitete in ,,(…) leitender Stellung im Bremerhaven, Hannover und Minden‘‘[1], bevor er in Weimar im Jahr 1904 die Firmen des „Karl Gebesse“ und „Karl Grothe“[2] übernahm und wurde über die Jahre ,,(…) einer der größten und führenden Häuser der Feinkost- und Weinbranche Thüringens„[3].
20 Hofhaltungen kauften bei Giesel Delikatessen und Feinkostwaren ein, unter anderem seine königliche Großhoheit des Großherzogs von Sachsen.[4]
Einem Zeitungsartikel aus den „Weimarer Nachrichten“ von 1929 konnten wir entnehmen, dass Giesel die „HAPAG-Lloyd“-Dampfer[5] mit Proviant versorgte und sich somit logistische Vorteile und wichtige Kontakte für den internationalen Handel (u.a. mit Südfrüchten) sicherte.[6] Diesem Artikel zufolge haben wir es mit einem Großhändler zu tun, der weit über Weimars Grenzen hinaus Geschäfte machte. Seine Verbindungen zur „HAPAG-Lloyd“ und zu Bremerhaven verdeutlichen seine internationale Reichweite.
Es ist nicht gewiss, ob er in den deutschen Kolonien Produkte erwarb. Allerdings können wir davon ausgehen, dass er vor allem amerikanische Güter und Kolonialwaren nach Deutschland zu bringen schien, welche auf den Bildern seines Ladens erkennbar sind.
Giesel bezeichnete seine Gerichte als Delikatessen und nicht als Kolonialwaren, wie es ähnliche Läden und Lokalitäten in der Weimarer Innenstadt taten.[7] Während sein Fokus auf dem Weinhandel zu liegen schien, vertrieb Giesel mehrere Kolonialwaren, die direkt auf seine Verbindung nach Bremerhaven zurückzuführen sind. Auf Fotos des Ladens Zwischen 1910 und 1945 sind exotische Früchte, wie Ananas und Bananen auf den Regalen zu sehen.[8] Pistazien, welche vor allem aus dem Nahen Osten stammten, wurden in seinen Spezialitäten verwendet und Ananas-Beignets wurden in dem von ihm später übernommenen Lokal „Der Goldene Adler“, in der Markstraße 14-16, serviert.[9] „Giesel-Kaffee“ wurde in Giesel-Verpackungen mit eigenem Logo vertrieben, auf dem er stolz mit einem Hummer, einem Schinken, mehreren Weintrauben, einer Ananas und natürlich Wein abgebildet wurde.[10] Ein Schild, das vor seinem Laden angebracht wurde, warb mit dem Begriff „Südfrüchte“. Er wollte also durchaus auf die exotischen Waren hinweisen. Es lässt sich annehmen, dass die von ihm importierten „Südfrüchte“ zu seinen Hauptspezialitäten und -angeboten gehörten.
Wir gehen davon aus, dass Gustav Giesel einer der erfolgreichsten Weimarer Kaufmänner seiner Zeit gewesen sein muss, da er Kontakte in sozial angesehene Gesellschaftskreise pflegte und mehrere Lokalitäten in der Stadt übernahm. Zudem wurde viel über ihn berichtet und auch archiviert.[11]
Der Laden am Markt 22 dient als ein Beispiel. In Weimar hat es 1920 nahezu 100 Kolonialwaren- und Tabakläden gegeben.[12] Gleich neben Giesels Laden gab es ein Tabakgeschäft, von Hugo Hey, am Markt 24. Nebenan gab es in der Nummer 20 ein Café, in dem man neben Kaffee auch verschiedene Teesorten erwerben konnte.
Teil des Stadtbildes
Schon früh prägten Kolonialwarengeschäfte das Bild der Weimarer Innenstadt und die exotischen Produkte wurden mit der Zeit alltäglich und „normal“.
Unseren Quellen zufolge waren 1793 die vertretenen Kolonialprodukte im Herzogtum Weimar-Sachsen-Eisenach neben den handelsüblichsten Waren Kaffee und Tabak auch Muskatnuss, Zimt und verschiedenste Tees; Baumwolle und Elfenbein waren ebenfalls erhältlich.[13] Es ist offensichtlich, dass die Kolonialwaren schon mehr als ein Jahrhundert vor den Aktivitäten Gustav Giesels und Co. ihren Weg nach Weimar fanden. Mit dem Aufkommen der Kolonialwaren stieg auch der Genussmittelkonsum stetig an, wobei es viele Überschneidungen von Kolonial- und Genusswaren gibt, da so ziemlich jedes Genussmittel (von Kaffee über Zucker bis hin zum Tabak) eine Kolonialgeschichte hat.[14]
Kolonialwaren
Kolonialwaren definieren sich durch die „(…) asymmetrische beziehungsweise ungleiche Verteilung von der Produktion eines Gutes in dem einen Land, für den Konsum in einem anderen“.[15] Kolonialwaren gibt es seit Beginn des Kolonialisierungsprozesses. Die Geschichte der Produktion und des Konsums der Waren gehen Hand in Hand mit der Geschichte der Sklaverei, Ausbeutung von Natur und Bevölkerungen der Kolonien. Bis heute ist der weltweite Handel mit den damals als „Kolonialwaren“ bezeichneten Waren von den frühen kolonialen Strukturen geprägt.[16] Aber auch die Verbreitung von rassistischem Gedankengut und den damit einhergehenden Stereotypen, zum Beispiel des dienenden, kulturlosen Menschen of Colour, wurde durch die Werbung für Kolonialwaren wie Schokolade, besonders angetrieben.[17] Durch den Kolonialismus und den Kolonialwarenhandel entwickelten sich Hafenstädte, die bis heute ihre Bedeutung als Handelszentren nicht verloren haben (z. B. Hamburg und Bremen). Außerdem entstanden Handelsrouten, die bis heute bestehen blieben (z. B. Hamburg-New York) und Plantagengebiete, die bis heute nicht an Wichtigkeit verloren haben (siehe weltweiten „Kaffeegürtel“). Bis heute werden derartige Waren am Weimarer Marktplatz verkauft.
Genussmittelkonsum – auch von heimischem Alkohol – steigerte sich im Allgemeinen mit der Etablierung der Kolonialwaren. Es wurden die berühmten „Kaffee- und Kippenpausen“ eingeführt, Cafés in jeder Provinz eröffnet, und vor allem die bürgerlichen Kreise erfreuten sich an wertvollen Textilien, woraus sich mit der Zeit verschiedene Moderichtungen entwickelten. Neben den Getränken und Textilien sind auch Tabawaren bis heute wichtiger Bestandteil des Konsumlebens in Deutschland.
Importierte Kolonialwaren als wirtschaftliche Bedrohung
Schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts erkannte man in Deutschland die wirtschaftliche Bedrohung der importierten Kolonialgüter, die meist von den Kolonialmächten bezogen wurden. Somit zahlten die Deutschen hohe Zölle und ihr Geld ging an ausländische Unternehmen. Bedrohlich war dies, weil es sehr wenige Güter gab, die Deutschland als Ausgleich exportierte. Die Tarifierung der verschiedenen Güter in Weimar-Sachsen-Eisenach im Jahr 1810 diente vor allem zur Förderung heimischer Produkte. Durch die erhöhten Tarife auf die Kolonialwaren erhoffte man sich mehr Konsum heimischer Waren und weniger Attraktivität der Kolonialwaren.[18]
Der Konsum dieser Waren litt jedoch wenig und blieb offenbar Bestandteil des Alltags der deutschen Bevölkerung. Genau 100 Jahre später, 1910, als die Deutschen bereits eigene Kolonien besaßen, wurden beinahe 200 Millionen Kilogramm Kaffee in Deutschland konsumiert wurden.[19]
Kolonialwaren heute
Unternehmen wie „Kaiser‘s Kaffeegesellschaft“ von 1912 bestanden bis vor Kurzem, und die „EDK“ (Einkaufsgesellschaft Deutscher Kolonialwarenhändler) von 1898, heute „Edeka“, heißt sogar immer noch so.[20] Problematisch ist vor allem der Namensteil „Kolonialwarenhändler“, der direkt auf die Kolonialzeit und die Entstehungsgeschichte des Unternehmens verweist. Noch immer werden in vielen Teilen der Welt sklavenähnliche Zustände auf Plantagen und in Fabriken – meist in Entwicklungsländern, doch auch in EU-Staaten – festgestellt.[21]
Was aus Giesels Handelsnetzwerk geworden ist? Es ist nicht genau feststellbar. Während den späten 1950er Jahren wurde das Grundstück, Am Markt 22, renoviert. Dies geschah, weil das Gebäude vermutlich mit weiteren am Markt während des Krieges zerbombt wurde.
Heute befindet sich Am Markt 22 der Juwelier Oeke KG. Nebenan, im „C-Keller“ werden weiterhin täglicher Kolonialwaren wie Kaffee, Tee und Tabak konsumiert. Diese Güter bleiben bis heute feste Bestandteile des Alltagslebens und der Konsum ist heute überhaupt nicht mehr wegzudenken.
Quellen
- Hackenesch, Silke (2016): „Der Sarotti-M*** (1918/ 1922)“; In: race & sex – eine Geschichte der Neuzeit; (hg.) Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat; Neofelis Verlag; Berlin
- Kein Autor angegeben (1912): Eine Reise durch die Deutschen Kolonien (Band 1): Verlag Kolonialpolitischer Zeitschriften; Berlin;
- Kleber, Thomas (2001): Der Sarotti-M***: Zum ikonographischen und literarischen Umfeld einer Werbefigur., Universität Siegen
- Ludwig, Jörg (1994): Amerikanische Kolonialwaren in Sachsen 1700-1850; Leipziger Universitätsverlag
- Menninger, Annerose (2004): Genuss im kulturellen Wandel – Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.-19. Jahrhundert); Franz Steiner Verlag, Stuttgart
- Sandgruber, Roman (1994): Genussmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa; In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Economic History Yearbook; Band 35; Akademie Verlag GmbH; Berlin
- Spiekermann, Uwe (2005): Die Edeka; In: Lummel, Peter & Deak, Alexandra (2005): Einkaufen – eine Geschichte des täglichen Bedarfs; Selbstverlag, Berlin
- Tarifliste von 1810; G 2 : 27 (n) 4:In Anna Amalia Bibliothek
- Von Skramlik, Emil (1955): Die Rolle der Genussmittel in Schillers Leben; In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Jahrgang 5; Heft 1; hrsg. Der Rektor; Friedrich-Schiller-Universität Jena
- Wünderich, Volker (1994): „Kolonialwaren für Europa“; Akademie Verlag, Berlin
- Yusoff, Kathryn (2019): White Utopia/ Black Inferno – Life on a Geologic Spike: In: e-flux journal#97
Onlinequellen
- Adressbuch der Landeshauptstadt Weimar (1920), Putze & Holzer Verlag, Weimar; Seite 307; online abrufbar unter: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00170323/AbW_1920_h306.TIF?logicalDiv=log000014
- Business and Human rights Research Centre: https://www.business-humanrights.org/en/chiquita-lawsuits-re-colombia
- International Federation for Human Rights: https://www.fidh.org/en/region/americas/colombia/human-rights-coalition-calls-on-icc-to-investigate-role-of-chiquita
- Bildquelle: https://www.welt.de/vermischtes/article191575525/Sarotti-Mohr-in-Mannheim-Wo-ist-das-Problem-die-Figuren-abzuhaengen.html Sarotti
Archivquellen
- Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58:
- Stadtarchiv Weimar: 60 10 5-45 Band 1/330/20
Endnoten
[1] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 1)
[2] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 1)
[3] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 1)
[4] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 2)
[5]Um 1900 war „HAPAG & Lloyd“ einer der wichtigsten Transporteure für südamerikanischen Kaffee/Bananen, Post- und Passagiertransport nach Europa.; Vgl. Hapag-Lloyd Webseite unter Mehr als 100 Jahre Kaffee-Erfahrung. Online abrufbar unter: https://www.hapag-lloyd.com/de/products/cargo/coffee/history.html
[6] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 1)
[7] Siehe Weimarer Adressbuch von 1920, Werbeanzeige von Karl Hahndorf (Geschäftsempfehlung Nummer 15) oder auch Karl Brecht (Geschäftsempfehlung Nr.76). (Bild 3)
[8] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 4)
[9] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 5)
[10] Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58: (Bild 6,7 & 9)
[11] Der oft zitierte Ordner aus dem Stadtarchiv Weimar: 53 24/1 Band 58, ist ihm gewidmet.
[12] vgl. Adressbuch der Landeshauptstadt Weimar (1920), Putze & Holzer Verlag, Weimar; Seite 307; online abrufbar unter: https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00170323/AbW_1920_h306.TIF?logicalDiv=log000014
[13] (vgl. Gleits-Ordnung vom 17.04. 1793, unterzeichnet durch Carl August, vorzufinden in der Anna Amalia Bibliothek Weimar).
[14] Sandgruber, Roman (1994): Genussmittel. Ihre reale und symbolische Bedeutung im neuzeitlichen Europa; In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Economic History Yearbook; Band 35; Akademie Verlag GmbH; Berlin; S.73
[15] Vgl. Wünderich, Volker (1994): „Kolonialwaren für Europa“, Akademie Verlag, Berlin, S.38
[16] vgl. Yusoff, Kathryn (2019): White Utopia/ Black Inferno – Life on a Geologic Spike: In: e-flux journal#97; S. 3-5
[17] Eines der bekanntesten Beispiele ist wohl der Sarotti-M***; vgl. Hackenesch, Silke (2016): „Der Sarotti-M*** (1918/ 1922)“; In: race & sex – eine Geschichte der Neuzeit; Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat (hrsg.); Neofelis Verlag; Berlin, S. 218-219
[18] vgl. Tarifliste von 1810; G 2 : 27 (n) 4:In Anna Amalia Bibliothek
[19] Kein Autor angegeben (1912): Eine Reise durch die Deutschen Kolonien (Band 1): Verlag Kolonialpolitischer Zeitschriften; Berlin; S. 100
[20] Vgl. Spiekermann, Uwe (2005): Die Edeka; In: Lummel, Peter (2005): Einkaufen – eine Geschichte des täglichen Bedarfs; Selbstverlag, Berlin; S. 94-96
[21] Maschelke, Jan-Christoph (2015): Moderne Sklaverei.: https://www.bpb.de/apuz/216478/moderne-sklavereien?p=all